05.05.2022: PM #InklusionFehlanzeige – Protestaktion und Übergabe Offener Brief an den Berliner Bildungssenat

Wir protestieren gegen die Aussage des Bildungssenats, dass „die Inklusion in Berlin für die Grundstufe bereits vollständig umgesetzt“ sei. Diese Position vertrat ein Staatssekretär der Berliner Senatsverwaltung für Bildung in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Partei „Die Linke“, die im März veröffentlicht wurde, (siehe Seite 6).

Protestbrief

Die Stellungnahme der Bildungsverwaltung steht im eklatanten Widerspruch zu allem, was Familien von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, die Mitarbeitenden in sozialen Institutionen, Verbänden, Schulen und bei Trägern, alltäglich an Mangel und Lücken in der schulischen Inklusion in Berlin erleben müssen. Deshalb fragen wir den Senat in einem offenen Brief nach seinem Inklusionsverständnis und wollen wissen:

  • Was versteht der Senat unter Inklusion?
  • Was versteht der Senat unter “vollständiger Umsetzung”?
  • Wie viele Förderschulen mit Grundstufe gibt es in Berlin?
  • Wie viele Kinder besuchen im Schuljahr 2021/22 diese Förderschulen in der Grundstufe?
  • Wie erklärt sich der Senat bei “vollständiger Umsetzung”, dass es noch Förderschulen in Berlin gibt?
  • Wie stellt der Senat sicher, dass alle Kinder mit Förderbedarfen, die Regelschulen besuchen, qualitativ denselben Umfang und dieselbe Versorgung erhalten, wie sie an Förderschulen die Regel war?

Maike Dieckmann, vom Berliner Bündnis für schulische Inklusion, sagt dazu: „Wir empfinden eine derartige Aussage als echte Farce. Kämpfen doch so viele Familien seit Jahren um echte Inklusion an Berliner Schulen und leiden so viele Kinder unter der aktuellen Situation der Nixklusion.“

Protestaktion

Den offenen Brief haben mit uns über dreißig Gremien, Verbände, Iniativen und Gruppen unterzeichnet, hinter denen z.T. jeweils einige zehntausend Mitglieder stehen, und einhundert Bürger:innen. Wir werden den offenen Brief am Donnerstag, 5. Mai zwischen 15 und 17 Uhr an die Senatorin Busse und/ oder einen Staatssekretär aus ihrem Haus übergeben. Einige der größten Barrieren werden wir am 5. Mai vor der Bildungsverwaltung, Bernhard-Weiß-Straße 6, 10178 Berlin, aufbauen, um der Senatorin und ihren Staatssekretären zu demonstrieren, wie viel noch zu tun ist, bis Inklusion in der Berliner Bildungslandschaft vollständig umgesetzt sein wird. Wir vom Berliner Bündnis sind bereit, beratend und begleitend als Betroffene mit dem Senat zusammenzuarbeiten, um diese Ziele zu erreichen.

Protestziel

Aus Sicht des Berliner Bündnisses für schulische Inklusion kann es nur eine Grundlage für die Umsetzung von Inklusion in Berlin geben: die UN-Behindertenrechtskonvention – kurz UN-BRK, die 2009 in Kraft getreten ist, um eine gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Das ist verbrieftes Menschenrecht!

Langjährige Aktivistinnen und Aktivisten rund um die Inklusive Schule in Berlin sagen dazu: “Seit 2010 machen wir häufig die Erfahrung, dass Bemühungen und konstruktive Veränderungsvorschläge von Betroffenen und Verbänden durch die Senatsverwaltung blockiert werden. Das muss sich ändern.”

In Berlin gibt es noch immer über 60 Förderschulen, die meisten davon mit Grundstufe. Viele Kinder können nicht wohnortnah beschult werden, weil die Einzugsschulen weder die Ausstattung noch die Ressourcen haben, um den Förderbedarf umzusetzen. Oft beginnt das schon bei fehlender Barrierefreiheit für mobilitätseingeschränkte Kinder und Jugendliche, für seh- und hörbehinderte oder auch autistische Kinder. Aber auch die Lernbedingungen, die Ausstattung sowie fachliche Qualifikation und Personalschlüssel erfüllen zu selten die individuellen Anforderungen, die Kinder mit Förderbedarfen für eine inklusive Lernumgebung brauchen. Noch dazu müssen in allen Bildungsverwaltungen das Verständnis und die Wahrnehmung dafür geschärft werden, dass eine Umsetzung von echter Inklusion ALLEN Kindern zugutekommt.

Die vollständige Pressemitteilung hier herunterladen.

Social Media Protest #InklusionFehlanzeige

In den sozialen Medien, (Twitter, Instagramm und Facebook) taggen wir unseren Protest mit #InklusionFehlanzeige. Bitte nutzt den Hashtag für Eure Beiträge zur Unterstützung unseres Protests.

01.05.2022: Inklusion vollständig umgesetzt? Offener Brief an die Senatsverwaltung für Bildung

Sehr geehrter Herr Staatssekretär Bozkurt, sehr geehrter Herr Staatssekretär Slotty,

wir, die unterzeichnenden Gremien, Verbände, Vereine, Initiativen und Betroffene sind hochgradig irritiert von Ihrer Aussage in der Antwort zur Drucksache 19 / 11 048 (https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-11048.pdf), Seite 6 wonach …. Inklusion in Berlin für die Grundstufe bereits vollständig umgesetzt. sei.

Diese können wir in keiner Weise nachvollziehen. Als Berliner Bündnis für schulische Inklusion haben wir einen dringenden und vor allem zeitnahen Gesprächs- und Aufklärungsbedarf. Wir beschäftigen uns z.T. seit Jahrzehnten mit dem Thema Integration, Inklusion und Teilhabe in Berliner Schulen und den konkreten Umsetzungsvoraussetzungen. Aus unserer Sicht kann von einer vollständigen Umsetzung der Inklusion in der Grundstufe in Berlin nicht im Ansatz die Rede sein.

Wir fragen uns:
• Auf welcher Definitionsgrundlage von Inklusion haben Sie diese Aussage getätigt?
• Auf welche Leistungen und Zahlen stützt sich Ihre Einschätzung „vollständig umgesetzt“? 
• Warum gibt es noch über 60 Förderschulen in den Klassenstufen 1-6, wenn Inklusion vollständig umgesetzt ist?
• Wie viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in 1-6 an Förderschulen unterrichtet? 
• Wie verhält sich „vollständig umgesetzt“ zu dieser Anzahl?
• Wie kommt es, dass Kinder mit einer Behinderung an ihren Einzugsschulen häufig gar nicht beschult werden können, da z.B. kein Fahrstuhl, keine Ausstattung und kein Fachpersonal vorhanden ist?
• Wie wird die irritierende Behauptung begründet, dass die tatsächliche Umsetzung von Inklusion und einer inklusiven Schulen bereits personell gewährleistet sei und sich daher kein erhöhter Lehrkräftebedarf ergebe?

Tagtäglich sind wir mit den z.T. massiven Problemen und Herausforderungen von Eltern von Kindern mit Behinderungen und Lehrenden konfrontiert. Hier nur einige Beispiele:

  1. Unzählige Familien reiben sich bei der Suche nach einer geeigneten Schule für ihr Kind mit Behinderung jedes Jahr auf: unter anderem, da viele Schulen bislang keine Fahrstühle oder rollstuhlgerechten Toiletten haben. Somit ist schon die Grundausstattung für Kinder mit Mobilitätseinschränkungen nicht gegeben.
  2. Ist die Einzugsschule aufgrund ihrer Gegebenheiten nicht in der Lage ein Kind mit erhöhtem Förderbedarf zu beschulen, ist es häufig kaum möglich, eine geeignete wohnortnahe Schule zu finden. Kinder müssen dann in die für den Wohnbezirk zuständige Förderschule. Es gibt etliche SchülerInnen mit Förderbedarf, die keinen Schulplatz haben oder nur verkürzt in die Schule gehen können.
  3. Der Lehrkräftemangel führt dazu, dass Schulhelfer*innen, Sonderpädagog*innen und weiteres Personal häufig nicht den Kindern oder Klassen mit hohen Unterstützungsbedarfen zugutekommen, sondern als Vertretungskräfte in andere Klassen abgezogen werden.
  4. Die fachlichen Kompetenzen für die sehr unterschiedlichen Bedarfe von z.B. nicht-sprechenden Kindern, Kindern mit herausforderndem Verhalten, Sinnes-beeinträchtigungen, Autismus, FASD, etc. fehlen an sehr vielen Schulen.
  5. Schulhelferstunden sind nur sehr selten an den Bedarf des Kindes oder der Klasse angepasst, die Stunden reichen nicht für den gesamten Schulalltag. Wir kennen viele Familien, die die benötigten Schulhelferstunden erst über den Rechtsstreit mit den Teilhabefachdiensten erhalten.
  6. Die Ausbildung und Zuteilung von Schulhelfer*innen ist weiterhin sehr unbefriedigend. Eine nachhaltige Strategie zur Verbesserung der Kompetenzen und Einbindung von Schulhelfer*innen fehlt bisher
  7. Der bisherige Haushaltsentwurf mit Kürzungen im Bereich Bildung sowie Lehrkräftebildung wird die Umsetzung von Inklusion in den kommenden Jahren weiter erschweren. Hier muss dringend gegengesteuert werden.

Nach unserem Verständnis ist Inklusion dann umgesetzt, wenn:

  1. Jedes Kind mit jeder Form von Förderbedarf sofort an jeder Grundschule aufgenommen werden kann und unmittelbar alle benötigten Ressourcen zur Verfügung stehen, um eine tatsächliche Beschulung ab der ersten Stunde zu garantieren. Dies beinhaltet, dass:
  2. der personelle Bedarf des Kindes, der Klasse und der Schule zu 100% abgedeckt ist,
  3. die räumliche Ausstattung vollständig gewährleistet ist, also alle Schulen barrierefrei für Kinder mit Mobilitätshilfen (Rollstuhl, Gehhilfen etc.) und Sinnesbeeinträchtigungen vollumfänglich umgebaut sind,
  4. die sächliche Ausstattung, alle Hilfsmittel, notwendigen Materialien etc. zur Verfügung stehen,
  5. die Klassenstruktur flexibel gestaltet werden kann, um Kindern mit Bedarf an Kleinklassen und ruhiger Atmosphäre gerecht zu werden.
  6. Es keine gesonderten Förderschulen mehr gibt, sondern diese in den Pool der inklusiven Schulen mit aufgenommen werden. 
  7. Jedes Kind die individuellen angemessenen Vorkehrungen erhält, wie sie die UN-BRK in Artikel 24 Abs. 2c, d und e vorsehen
  8. Nicht nur Quantität, sondern auch die Qualität von inklusiver Beschulung garantiert ist. Neben der vollumfänglichen Umsetzung von formellen, sächlichen und personellen Gegebenheiten, können Kinder ihren Kompetenzen, Bedarfen und Bedürfnissen entsprechend lernen und teilhaben und werden ihren eigenen Ausgangslagen entsprechend gefördert. Dies bedeutet, dass Kinder mit Förderbedarf in den Klassen nicht einfach nur dabei sind, sondern gleichberechtigte Teilnehmende der Schulgemeinschaft.

In unserem Leitbild steht: „Inklusion ist dann erreicht, wenn wir in unserer Gesellschaft alle gleichberechtigt und chancengleich zusammenleben und lernen“. Dies ist bisher in der Grundstufe nicht gegeben, an den Oberschulen gibt es noch viel mehr zu tun. Es herrscht eine eklatante Lücke zu den in der UN-BRK benannten Vorkehrungen.

Wie auf https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/inklusion/fachinfo/ nachlesbar, hat die Senatsverwaltung Konzepte zu den einzelnen Förderschwerpunkten vorliegen, die auch in das Rahmenkonzept “Inklusive Schwerpunktschule” eingeflossen sind. Demzufolge würde die Aussage, dass es eine flächendeckende Umsetzung der Inklusion gibt, bedeuten müssen, dass es keine derartigen Schwerpunkt-Grundschulen mehr geben dürfte. Im Übrigen fehlt eine nachvollziehbare Aussage der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, ob die Kriterien, die zu den einzelnen Förderschwerpunkten erarbeitet worden sind, zumindest in den Schwerpunktschulen bereits umgesetzt sind.

Seit Jahren senden verschiedene Gremien und Verbände der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie ihre Forderungen und Bitten um Veränderung. Das Berliner Bündnis für schulische Inklusion übergab zuletzt ihre Forderungen in Kooperation mit dem Berliner Behindertenparlament am Welttag der Menschen mit Behinderungen, dem 05.05.2021, an die Verantwortlichen, siehe hier: [Link BBP Forderungen].

Wir sehen dringenden Handlungsbedarf in dieser Sache. Wir fordern die Senatsverwaltung auf, ein Beteiligungsformat (z.B. eine Steuerungsgruppe) einzurichten, in das alle Betroffenen und Beteiligten partizipativ eingebunden sind, damit Inklusion in Berlin tatsächlich Fortschritte bei der Umsetzung macht. Es bedarf eines kurz-, mittel- und langfristigen Umsetzungskonzeptes, das Inklusion in Grund- und Oberschulen nachhaltig und verlässlich plant und dabei auch Klarheit über die notwendigen finanziellen Mittel schafft – und deren Bereitstellung sichert.

Gerne unterstützen wir die Organisation eines solchen Formates.

Unsere Unterlagen, Zahlen und Berichte, aus denen wir unsere oben getätigten Aussagen ableiten, stellen wir gerne zur Verfügung.

Unsere Forderungen können Sie hier nachlesen: Forderungen – Berliner Bündnis für schulische Inklusion (buendnis-inklusion.berlin)

Mit freundlichen Grüßen,
Anne Lautsch und Maike Dieckmann 
für das Berliner Bündnis für schulische Inklusion

Hier können Sie den offenen Brief mit den Namen aller Unterzeichnenden herunterladen.

Kolumne Mai 2022 – Teil II: Inklusion vollständig umgesetzt? Ein Blick in die Zahlen der KMK

Wer also tatsächlich messen möchte, wie weit Inklusion umgesetzt ist, muss auf die Exklusion gucken: was bewegt sich in Bezug darauf, Ausschluss von Kindern mit Behinderung zu verringern? Wie weit hat sich das System als System tatsächlich verändert? Das ist leider sehr überschaubar – sowohl in Berlin als auch bundesweit. Während wir auf die aktuellen Zahlen des Senats als Antwort auf den offenen Brief warten, können wir die Zahlen betrachten, die uns in der KMK Statistik zur Verfügung stehen (Januar 2022):

2011 haben 10.883 Kinder in Berlin eine Förderschule besucht; 2020 waren es noch 8.345 (a.o. S. 25, Tabelle B.1.1).

2011 haben 9.750 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Berlin allgemeine Schulen besucht; 2020 waren es 19.815 (a.o., S. 53, Tabelle B 2.1.1.1).
Insgesamt gab es 2011 in Berlin 273.413 Schüler:innen; 2020 319.347 (a.o. S. 118).

Das heißt: einem Rückgang von gut 2.500 Kindern an den Förderschulen steht ein Anstieg von über 10.000 Kindern an den Regelschulen gegenüber. Da die Schüler:innenzahl in diesem Zeitraum gestiegen ist, bedeuten 2500 Kinder und Jugendliche weniger an Förderschulen einen Rückgang von etwa 1,4 Prozentpunkten (c. 4% zu 2,6%). Demgegenüber steht ein Anstieg von Kindern mit Förderbedarfen in allgemeinen Schulen (Inklusionsquote) von 3,6 auf 6,2% – knapp 60%. Der Anteil von Kinder mit sonderpädagogisch diagnostiziertem Förderbedarf (die Förderquote) ist in in diesem Zeitraum Berlin von ca. 7,5% auf c. 8,8% gestiegen (eigene Berechnungen auf der Basis von KMK Statistik: Tabellen B.1.1, B 2.1.1.1 und Gesamtschülerzahl a.a.O. 118). Continue reading „Kolumne Mai 2022 – Teil II: Inklusion vollständig umgesetzt? Ein Blick in die Zahlen der KMK“

Kolumne Mai 2022 – Teil I: Inklusion vollständig umgesetzt? Eine Frage von Begriffen

Am 21. Februar 2022 hat die Abgeordnete Franziska Brychcy (Die Linke) eine kleine Anfrage an den Berliner Senat gestellt, deren letzte zwei Punkte lauteten:

„16. Wie bewertet der Senat die Ergebnisse der im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) angefertigten Studie von Prof. Klemm, der Lehrkräftebedarf und das Angebot der Lehrkräfte bis 2030 untersuchte und mindestens 81.000 fehlende Lehrkräfte errechnete?
17. Wie hoch wäre in diesem Zusammenhang der zusätzliche Lehrkräftebedarf, der für Berlin durch die fehlende Abbildung von Inklusion und Ganztagsschulbetrieb in den bisherigen Prognosen bisher nicht berücksichtigt worden wäre?“

Die Antwort des Senats dazu vom 9. März 2022, unterschrieben von Aziz Bozkurt, liest sich so: […] Die aufgestellten Annahmen zu Inklusion und Ganztagsbetrieb treffen in Berlin ebenfalls nicht zu. Zum einen ist die Inklusion in Berlin für die Grundstufe bereits vollständig umgesetzt, zum anderen ist auch der Ganztagsbetrieb in Berlin bereits umfassend ausgebaut.“

Leider geht diese Antwort der Senatsverwaltung für Bildung an das Berliner Abgeordnetenhaus nicht mit einer Analyse einher, worauf genau sich die Aussage, Inklusion sei „bereits vollständig umgesetzt” gründet. Continue reading „Kolumne Mai 2022 – Teil I: Inklusion vollständig umgesetzt? Eine Frage von Begriffen“