Kolumne Mai 2022 – Teil I: Inklusion vollständig umgesetzt? Eine Frage von Begriffen

Am 21. Februar 2022 hat die Abgeordnete Franziska Brychcy (Die Linke) eine kleine Anfrage an den Berliner Senat gestellt, deren letzte zwei Punkte lauteten:

„16. Wie bewertet der Senat die Ergebnisse der im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) angefertigten Studie von Prof. Klemm, der Lehrkräftebedarf und das Angebot der Lehrkräfte bis 2030 untersuchte und mindestens 81.000 fehlende Lehrkräfte errechnete?
17. Wie hoch wäre in diesem Zusammenhang der zusätzliche Lehrkräftebedarf, der für Berlin durch die fehlende Abbildung von Inklusion und Ganztagsschulbetrieb in den bisherigen Prognosen bisher nicht berücksichtigt worden wäre?“

Die Antwort des Senats dazu vom 9. März 2022, unterschrieben von Aziz Bozkurt, liest sich so: […] Die aufgestellten Annahmen zu Inklusion und Ganztagsbetrieb treffen in Berlin ebenfalls nicht zu. Zum einen ist die Inklusion in Berlin für die Grundstufe bereits vollständig umgesetzt, zum anderen ist auch der Ganztagsbetrieb in Berlin bereits umfassend ausgebaut.“

Leider geht diese Antwort der Senatsverwaltung für Bildung an das Berliner Abgeordnetenhaus nicht mit einer Analyse einher, worauf genau sich die Aussage, Inklusion sei „bereits vollständig umgesetzt” gründet.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Senat hier mit „Inklusion” lediglich den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf meint, nicht jedoch eine umfassende Inklusion, wie sie in unserem Leitbild skizziert wird, nämlich, dass jedem Kind unabhängig von Herkunft und Herausforderungen die bestmögliche Entfaltung in einem inklusiven Schulsystem ermöglicht wird

Um herauszufinden, wie es auch mit Blick auf diese recht enge Definition von „umgesetzter Inklusion” zu dieser Aussage kommen kann, hat das Berliner Bündnis für schulische Inklusion einen offenen Brief an den Senat geschrieben. Darin werden dem Senat Fragen in drei Bereichen gestellt: zum Inklusionsverständnis, zu Zahlen zu Förderschulen und Förderschulbesuchen und zur qualitativen Umsetzung von Inklusion:

Verständnis:
Was versteht der Senat unter Inklusion?
Was versteht der Senat unter „vollständiger Umsetzung”?

Zahlen:
Wie viele Förderschulen mit Grundstufe gibt es in Berlin?
Wie viele Kinder besuchen im Schuljahr 2021/22 diese Förderschulen in der Grundstufe?
Wie erklärt sich der Senat bei „vollständiger Umsetzung”, dass es noch Förderschulen in Berlin gibt?

Qualität:
Wie stellt der Senat sicher, dass alle Kinder mit Förderbedarfen, die Regelschulen besuchen, qualitativ denselben Umfang und dieselbe Versorgung erhalten, wie sie an Förderschulen die Regel war?

Wir möchten gleichzeitig vorwegnehmen, dass wir eine Antwort, die sich auf den „Inklusionsanteil” bezieht, nicht für ausreichend halten. Holen wir dazu etwas weiter aus und gucken auf die Definitionen der verwendeten Begriffe. Hollenbach-Biele und Klemm 2020 1 unterscheiden vier wesentliche Kennzahlen, um die Entwicklung von Inklusion zu messen – verstanden als den Anteil an Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarfen, die an allgemeinen, also Regelschulen, unterrichtet werden, sie schreiben:

  • Förderquoten: Sie geben den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht in allgemeinbildenden Schulen der Primar- und Sekundarstufe I an (also der Schüler und Schülerinnen der Jahrgangsstufen 1 bis 9 bzw. in einzelnen Bundesländern bis 10) – unabhängig von deren Förderort.
  • Exklusionsquoten: Sie geben den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf, die separiert in Förderschulen unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht in allgemeinbildenden Schulen der Primar- und Sekundarstufe I an.
  • Inklusionsquoten: Sie geben den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf, die inklusiv in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht in allgemeinbildenden Schulen der Primar- und Sekundarstufe I an.
  • Inklusionsanteile: Sie geben den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf, die inklusiv unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf an. (Hollenbach-Biele/ Klemm 2020: 9).

Was bedeutet das im Einzelnen? Das lässt sich am besten an einem fiktiven Rechenbeispiel betrachten. Nehmen wir an, im Jahr 2009 gibt es 100 schulpflichtige Kinder in Inklu-Hausen, die die Grundschule und die Sekundarstufe I besuchen. Davon sind 5 mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf diagnostiziert. Von diesen 5 gehen 3 auf eine separate Förderschule, zwei auf eine Regelschule.
Das bedeutet: die Förderquote liegt bei 5%, die Exklusionsquote liegt in diesem Jahr bei 3% – 3 von 100, und die Inklusionsquote bei 2%. Die Grundgesamtheit für die Quoten ist jeweils die Summe aller Kinder – in diesem Fall 100.

Betrachtet man die Zusammensetzung dieser Förderquote von 5 Prozent, so ergeben sich daraus die Exklusions- und Inklusionsanteile: von der Grundmenge 5 besuchen 60% (= 3 Kinder) eine separate Förderschule. 40% (= zwei Kinder) besuchen eine Regelschule. Nach der Ratifizierung der UN-BRK 2009 und dem darin verbuchten Recht auf inklusive Beschulung nimmt die Anzahl an Kindern, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wird, zu. Für die Entwicklung und mögliche Gründe dazu s. Klemm/Hollenbach-Biele 2020: 12 ff.

Für unser Beispiel aus Inklu-Hausen bedeutet das: Im Jahr 2021 werden von 100 Kindern 10 diagnostiziert, doppelt so viele wie noch 2009. Davon besuchen weiterhin 3 eine separate Förderschule, 7 gehen auf eine Regelschule. Vor 2009 wären 5 von ihnen vermutlich nicht diagnostiziert worden, hätten aber ebenfalls eine Regelschule besucht.
Also: Die Exklusionsquote bleibt bei 3 von 100 – 3%. Die Inklusionsquote liegt jetzt bei 7%. Die Grundgesamtheit ist die Summe der Kinder – 100. Betrachtet man wieder nur die Summe der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, dann liegt jetzt, weil ja die Förderquote höher ist, der Exklusionsanteil bei 30%. Der Inklusionsanteil liegt bei 70%. Gleichzeitig hat sich aber nichts daran verändert, dass weiterhin 3 von 100 Kindern auf eine separate Förderschule gehen.

In einem Diagramm lässt sich das so abbilden:

Diagramm zeigt Inklusionsanteil und Exklusionsquote

Jetzt könnte der Bürgerrat von Inklu-Hausen sagen: toll – wir haben Inklusion umgesetzt! Denn der Inklusionsanteil ist ja um fast 100% höher. Und es gehen 50% weniger Kinder auf separate Förderschulen. Statistisch ist das richtig. Zum Glück weiß der Bürgerrat von Inklu-Hausen aber, dass diese Zahlen insofern irreführend sind, weil sie nicht betrachten, dass sich die Grundgesamtheit bei Inklusions- und Exklusionsanteil geändert hat – von 5% auf 10%. Und der Bürgerrat weiß, dass immer noch 3 Kinder auf die Förderschule gehen. Ganz genau so viele wie 2009. Und deshalb sind seine Schlussfolgerung andere: warum bewegt sich an der Förderschule nichts? Und warum diagnostizieren wir so viel mehr? Und, jenseits der Zahlen: bekommen die Kinder, die einen Förderstatus haben und auf die Regelschulen gehen, eigentlich die Förderung, die sie brauchen? Und wie wird das gemessen?

Der Bürgerrat von Inklu-Hausen betrachtet also vorrangig die Exklusionsquote, in dem Wissen, dass der Inklusionsanteil irreführend ist. In Teil 2 verlassen wir daher Inklu-Hausen und werfen einen Blick auf die Zahlen der KMK, die die Diskrepanz zwischen der Exklusionsquote und dem Inklusionsanteil ebenfalls verdeutlichen.

Autorin: Ina Döttinger, April 2022

Quellen:

  1. Hollenbach-Biele, Nicole / Klemm, Klaus. Inklusive Bildung zwischen Licht und Schatten: Eine Bilanz nach zehn Jahren inklusiven Unterrichts. Gütersloh 2020. Zuletzt abgerufen am 23.4.2022

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