23.08.2022: Gemeinsame Pressekonferenz und Erklärung: Qualitativ hochwertige Inklusive Bildung ist keine Kür sondern Pflicht!

// Pressesprecher der GEW BERLIN // Geschäftsführer

Presseerklärung Nr. 41/2022 von Dienstag, dem 23. August 2022

Qualitativ hochwertige Inklusive Bildung ist keine Kür sondern Pflicht!

Da insgesamt knapp 1.000 Lehrkräftestellen fehlen, will die Senatsverwaltung bei den sonderpädagogischen Förderstunden sparen. Das hat vor allem negative Auswirkungen auf die Schüler*innen, die dringend spezifische Unterstützung in der Schule benötigen. Bei ihrer Schuljahresauftakt-Pressekonferenz hat die GEW BERLIN gemeinsam mit Interessenvertreter*innen für Menschen mit Behinderungen und dem Berliner Bündnis für schulische Inklusion gegen dieses Vorhaben protestiert.

Für das neue Schuljahr hat die Senatsverwaltung die Grundlage für die Berechnung des Lehrkräftepersonals (Zumessungsrichtlinie) so geändert, dass Schulen die Anzahl der sonderpädagogischen Förderstunden für Schüler*innen mit dem höchsten Förderbedarf drastisch reduzieren werden können – von 8 auf 3 Wochenstunden pro Kind. „Wenn alle Schulen von der neuen Regelung Gebrauch machen, entspricht dies nach unseren Berechnungen einem Wegfall von 500 vollen Sonderpädagogik-Stellen“, erklärte Tom Erdmann, Vorsitzender der GEW BERLIN. „Schon vorher waren die Rahmenbedingungen für Inklusion an unseren Schulen schlecht. Nun hat sich die Situation jedoch noch weiter verschlechtert. Allein die Statistik zum Lehrkräftebedarf steht durch die Maßnahme besser da“, so Erdmann.

Betroffen von der neuen Regelung sind Schüler*innen mit Förderbedarf im Sehen (Blindheit), Hören und Kommunikation (Gehörlose) und in den Bereichen Geistige Entwicklung und Autismus. Die gekürzten 5 Sonderpädagogik-Stunden können ersetzt werden durch 7,5 Stunden, die von pädagogischen Unterrichtshilfen, Erzieher*innen oder Betreuer*innen erbracht werden. „Auch wenn das nicht nach einer Kürzung aussieht, kann eine qualitativ hochwertige Bildung für die betroffenen Kinder ohne die dafür ausgebildeten Sonderpädagog*innen nicht umgesetzt werden“, betonte Nuri Kiefer, Grundstufenleiter der Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule und Vorsitzender der Vereinigung Berliner Schulleiter*innen in der GEW BERLIN (VBS). Kiefer warnte auch vor den langfristigen Folgen: „Es darf auf keinen Fall zu Veränderungen bei der Bedarfsermittlung an Sonderpädagogiklehrkräften kommen, denn sonst wird die adäquate Einstellung von ausgebildetem Personal und die Schaffung von Studienplätzen unmöglich. Die Lehrkräftestellen müssen weiter als solche aufgeführt werden, so dass eine Rückumwandlung jederzeit möglich ist.“

„Die Änderung der Berliner Lehrkräfte-Zumessungsrichtlinie ist eine Ungleichbehandlung, die einer einzelnen Gruppe massiv Chancengleichheit versagt“, kritisierte die stellvertretende Vorsitzende des Landesbeirats für Menschen mit Behinderungen, Gerlinde Bendzuck. „Inklusive Bildung ist keine Kür, sondern Pflicht sowie Anspruch und Recht. Es geht um die verbrieften Rechte von Kindern mit Behinderungen auf qualitativ hochwertige Bildung, auf Gleichberechtigung, aktive Teilhabe und Schutz vor Diskriminierung gemäß UN-Behindertenrechtskonvention. Wir beobachten Rückschritte der schulischen Inklusion“, betonte Bendzuck. Sie kritisierte außerdem, dass die Interessenvertretung der Menschen mit Behinderungen nicht beteiligt wurde, obwohl eine Beteiligung bei allen Belangen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, im Landesgleichberechtigungsgesetz (LGBG) vorgeschrieben ist. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) sieht hier einen Verstoß gegen die Beteiligungspflicht und spricht sich dafür aus, eine Verbandsklage gegen die veränderte Vorschrift auf den Weg zu bringen.

Anne Lautsch vom Bündnis für schulische Inklusion beschrieb, wie schwierig die Situation für die Familien ist: „Es gibt viele verzweifelte Eltern, die sich gezwungen sehen, ihr Kind an einer Förderschule anzumelden oder dorthin zu wechseln, obwohl sie sich für ihr Kind eine wohnortnahe inklusive Schule wünschen und eigentlich auch den Anspruch darauf haben. Angesichts der fehlenden Ressourcen und noch schlechterer Bedingungen an Regelschulen durch die vorgesehenen Änderungen fürchten sie gravierende Verschlechterungen, zum Beispiel dass noch mehr Kinder nur verkürzten oder gar keinen Unterricht mehr haben. Hinzu kommt, dass auch die Plätze an Förderzentren rar sind. In einigen Berliner Bezirken müssen Kinder auf Förderzentren in Nachbarbezirken oder gar nach Brandenburg ausweichen. Hier stellt dann die Beförderung ein zusätzliches Problem dar, da sie nicht ohne Weiteres übernommen wird .“ Die Eltern gehen davon aus, dass es in der Folge zu einem weiteren Ausbau der Förderzentren kommen wird und auch die Exklusionsquote ansteigt.

Da die Senatsverwaltung bei nicht ausreichend verfügbaren Personalressourcen seit jeher der Sicherung des Pflichtunterrichts Priorität einräumt, kommt es ohnehin schon tagtäglich zum Ausfall von Förderstunden und zur Benachteiligung von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen. „An dieser Stelle muss dringend umgesteuert werden, denn die Sicherung qualitativ hochwertiger Bildung ist ein Menschenrecht. Die Politik ist in der Pflicht, die Strukturen dafür zu schaffen. Die Kinder, die mehr Unterstützung brauchen, müssen in den Fokus gerückt werden und dürfen nicht die einzige Gruppe sein, auf deren Kosten gespart wird. Es müssen Lösungen gefunden werden, die nicht vor allem den Schwächsten schaden. Förderstunden sollten zudem verbindlich von der Vertretung ausgenommen sein“, forderte Karin Petzold, Grundschullehrerin und Leiterin des Vorstandsbereichs Schule der GEW BERLIN.

Download der Presse-Erklärung (PDF, 544KB)

05.05.2022: PM #InklusionFehlanzeige – Protestaktion und Übergabe Offener Brief an den Berliner Bildungssenat

Wir protestieren gegen die Aussage des Bildungssenats, dass „die Inklusion in Berlin für die Grundstufe bereits vollständig umgesetzt“ sei. Diese Position vertrat ein Staatssekretär der Berliner Senatsverwaltung für Bildung in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Partei „Die Linke“, die im März veröffentlicht wurde, (siehe Seite 6).

Protestbrief

Die Stellungnahme der Bildungsverwaltung steht im eklatanten Widerspruch zu allem, was Familien von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, die Mitarbeitenden in sozialen Institutionen, Verbänden, Schulen und bei Trägern, alltäglich an Mangel und Lücken in der schulischen Inklusion in Berlin erleben müssen. Deshalb fragen wir den Senat in einem offenen Brief nach seinem Inklusionsverständnis und wollen wissen:

  • Was versteht der Senat unter Inklusion?
  • Was versteht der Senat unter “vollständiger Umsetzung”?
  • Wie viele Förderschulen mit Grundstufe gibt es in Berlin?
  • Wie viele Kinder besuchen im Schuljahr 2021/22 diese Förderschulen in der Grundstufe?
  • Wie erklärt sich der Senat bei “vollständiger Umsetzung”, dass es noch Förderschulen in Berlin gibt?
  • Wie stellt der Senat sicher, dass alle Kinder mit Förderbedarfen, die Regelschulen besuchen, qualitativ denselben Umfang und dieselbe Versorgung erhalten, wie sie an Förderschulen die Regel war?

Maike Dieckmann, vom Berliner Bündnis für schulische Inklusion, sagt dazu: „Wir empfinden eine derartige Aussage als echte Farce. Kämpfen doch so viele Familien seit Jahren um echte Inklusion an Berliner Schulen und leiden so viele Kinder unter der aktuellen Situation der Nixklusion.“

Protestaktion

Den offenen Brief haben mit uns über dreißig Gremien, Verbände, Iniativen und Gruppen unterzeichnet, hinter denen z.T. jeweils einige zehntausend Mitglieder stehen, und einhundert Bürger:innen. Wir werden den offenen Brief am Donnerstag, 5. Mai zwischen 15 und 17 Uhr an die Senatorin Busse und/ oder einen Staatssekretär aus ihrem Haus übergeben. Einige der größten Barrieren werden wir am 5. Mai vor der Bildungsverwaltung, Bernhard-Weiß-Straße 6, 10178 Berlin, aufbauen, um der Senatorin und ihren Staatssekretären zu demonstrieren, wie viel noch zu tun ist, bis Inklusion in der Berliner Bildungslandschaft vollständig umgesetzt sein wird. Wir vom Berliner Bündnis sind bereit, beratend und begleitend als Betroffene mit dem Senat zusammenzuarbeiten, um diese Ziele zu erreichen.

Protestziel

Aus Sicht des Berliner Bündnisses für schulische Inklusion kann es nur eine Grundlage für die Umsetzung von Inklusion in Berlin geben: die UN-Behindertenrechtskonvention – kurz UN-BRK, die 2009 in Kraft getreten ist, um eine gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Das ist verbrieftes Menschenrecht!

Langjährige Aktivistinnen und Aktivisten rund um die Inklusive Schule in Berlin sagen dazu: “Seit 2010 machen wir häufig die Erfahrung, dass Bemühungen und konstruktive Veränderungsvorschläge von Betroffenen und Verbänden durch die Senatsverwaltung blockiert werden. Das muss sich ändern.”

In Berlin gibt es noch immer über 60 Förderschulen, die meisten davon mit Grundstufe. Viele Kinder können nicht wohnortnah beschult werden, weil die Einzugsschulen weder die Ausstattung noch die Ressourcen haben, um den Förderbedarf umzusetzen. Oft beginnt das schon bei fehlender Barrierefreiheit für mobilitätseingeschränkte Kinder und Jugendliche, für seh- und hörbehinderte oder auch autistische Kinder. Aber auch die Lernbedingungen, die Ausstattung sowie fachliche Qualifikation und Personalschlüssel erfüllen zu selten die individuellen Anforderungen, die Kinder mit Förderbedarfen für eine inklusive Lernumgebung brauchen. Noch dazu müssen in allen Bildungsverwaltungen das Verständnis und die Wahrnehmung dafür geschärft werden, dass eine Umsetzung von echter Inklusion ALLEN Kindern zugutekommt.

Die vollständige Pressemitteilung hier herunterladen.

Social Media Protest #InklusionFehlanzeige

In den sozialen Medien, (Twitter, Instagramm und Facebook) taggen wir unseren Protest mit #InklusionFehlanzeige. Bitte nutzt den Hashtag für Eure Beiträge zur Unterstützung unseres Protests.