Sehr geehrter Herr Staatssekretär Bozkurt, sehr geehrter Herr Staatssekretär Slotty,
wir, die unterzeichnenden Gremien, Verbände, Vereine, Initiativen und Betroffene sind hochgradig irritiert von Ihrer Aussage in der Antwort zur Drucksache 19 / 11 048 (https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-11048.pdf), Seite 6 wonach „…. Inklusion in Berlin für die Grundstufe bereits vollständig umgesetzt.„ sei.
Diese können wir in keiner Weise nachvollziehen. Als Berliner Bündnis für schulische Inklusion haben wir einen dringenden und vor allem zeitnahen Gesprächs- und Aufklärungsbedarf. Wir beschäftigen uns z.T. seit Jahrzehnten mit dem Thema Integration, Inklusion und Teilhabe in Berliner Schulen und den konkreten Umsetzungsvoraussetzungen. Aus unserer Sicht kann von einer vollständigen Umsetzung der Inklusion in der Grundstufe in Berlin nicht im Ansatz die Rede sein.
Wir fragen uns:
• Auf welcher Definitionsgrundlage von Inklusion haben Sie diese Aussage getätigt?
• Auf welche Leistungen und Zahlen stützt sich Ihre Einschätzung „vollständig umgesetzt“?
• Warum gibt es noch über 60 Förderschulen in den Klassenstufen 1-6, wenn Inklusion vollständig umgesetzt ist?
• Wie viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in 1-6 an Förderschulen unterrichtet?
• Wie verhält sich „vollständig umgesetzt“ zu dieser Anzahl?
• Wie kommt es, dass Kinder mit einer Behinderung an ihren Einzugsschulen häufig gar nicht beschult werden können, da z.B. kein Fahrstuhl, keine Ausstattung und kein Fachpersonal vorhanden ist?
• Wie wird die irritierende Behauptung begründet, dass die tatsächliche Umsetzung von Inklusion und einer inklusiven Schulen bereits personell gewährleistet sei und sich daher kein erhöhter Lehrkräftebedarf ergebe?
Tagtäglich sind wir mit den z.T. massiven Problemen und Herausforderungen von Eltern von Kindern mit Behinderungen und Lehrenden konfrontiert. Hier nur einige Beispiele:
- Unzählige Familien reiben sich bei der Suche nach einer geeigneten Schule für ihr Kind mit Behinderung jedes Jahr auf: unter anderem, da viele Schulen bislang keine Fahrstühle oder rollstuhlgerechten Toiletten haben. Somit ist schon die Grundausstattung für Kinder mit Mobilitätseinschränkungen nicht gegeben.
- Ist die Einzugsschule aufgrund ihrer Gegebenheiten nicht in der Lage ein Kind mit erhöhtem Förderbedarf zu beschulen, ist es häufig kaum möglich, eine geeignete wohnortnahe Schule zu finden. Kinder müssen dann in die für den Wohnbezirk zuständige Förderschule. Es gibt etliche SchülerInnen mit Förderbedarf, die keinen Schulplatz haben oder nur verkürzt in die Schule gehen können.
- Der Lehrkräftemangel führt dazu, dass Schulhelfer*innen, Sonderpädagog*innen und weiteres Personal häufig nicht den Kindern oder Klassen mit hohen Unterstützungsbedarfen zugutekommen, sondern als Vertretungskräfte in andere Klassen abgezogen werden.
- Die fachlichen Kompetenzen für die sehr unterschiedlichen Bedarfe von z.B. nicht-sprechenden Kindern, Kindern mit herausforderndem Verhalten, Sinnes-beeinträchtigungen, Autismus, FASD, etc. fehlen an sehr vielen Schulen.
- Schulhelferstunden sind nur sehr selten an den Bedarf des Kindes oder der Klasse angepasst, die Stunden reichen nicht für den gesamten Schulalltag. Wir kennen viele Familien, die die benötigten Schulhelferstunden erst über den Rechtsstreit mit den Teilhabefachdiensten erhalten.
- Die Ausbildung und Zuteilung von Schulhelfer*innen ist weiterhin sehr unbefriedigend. Eine nachhaltige Strategie zur Verbesserung der Kompetenzen und Einbindung von Schulhelfer*innen fehlt bisher
- Der bisherige Haushaltsentwurf mit Kürzungen im Bereich Bildung sowie Lehrkräftebildung wird die Umsetzung von Inklusion in den kommenden Jahren weiter erschweren. Hier muss dringend gegengesteuert werden.
Nach unserem Verständnis ist Inklusion dann umgesetzt, wenn:
- Jedes Kind mit jeder Form von Förderbedarf sofort an jeder Grundschule aufgenommen werden kann und unmittelbar alle benötigten Ressourcen zur Verfügung stehen, um eine tatsächliche Beschulung ab der ersten Stunde zu garantieren. Dies beinhaltet, dass:
- der personelle Bedarf des Kindes, der Klasse und der Schule zu 100% abgedeckt ist,
- die räumliche Ausstattung vollständig gewährleistet ist, also alle Schulen barrierefrei für Kinder mit Mobilitätshilfen (Rollstuhl, Gehhilfen etc.) und Sinnesbeeinträchtigungen vollumfänglich umgebaut sind,
- die sächliche Ausstattung, alle Hilfsmittel, notwendigen Materialien etc. zur Verfügung stehen,
- die Klassenstruktur flexibel gestaltet werden kann, um Kindern mit Bedarf an Kleinklassen und ruhiger Atmosphäre gerecht zu werden.
- Es keine gesonderten Förderschulen mehr gibt, sondern diese in den Pool der inklusiven Schulen mit aufgenommen werden.
- Jedes Kind die individuellen angemessenen Vorkehrungen erhält, wie sie die UN-BRK in Artikel 24 Abs. 2c, d und e vorsehen
- Nicht nur Quantität, sondern auch die Qualität von inklusiver Beschulung garantiert ist. Neben der vollumfänglichen Umsetzung von formellen, sächlichen und personellen Gegebenheiten, können Kinder ihren Kompetenzen, Bedarfen und Bedürfnissen entsprechend lernen und teilhaben und werden ihren eigenen Ausgangslagen entsprechend gefördert. Dies bedeutet, dass Kinder mit Förderbedarf in den Klassen nicht einfach nur dabei sind, sondern gleichberechtigte Teilnehmende der Schulgemeinschaft.
In unserem Leitbild steht: „Inklusion ist dann erreicht, wenn wir in unserer Gesellschaft alle gleichberechtigt und chancengleich zusammenleben und lernen“. Dies ist bisher in der Grundstufe nicht gegeben, an den Oberschulen gibt es noch viel mehr zu tun. Es herrscht eine eklatante Lücke zu den in der UN-BRK benannten Vorkehrungen.
Wie auf https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/inklusion/fachinfo/ nachlesbar, hat die Senatsverwaltung Konzepte zu den einzelnen Förderschwerpunkten vorliegen, die auch in das Rahmenkonzept “Inklusive Schwerpunktschule” eingeflossen sind. Demzufolge würde die Aussage, dass es eine flächendeckende Umsetzung der Inklusion gibt, bedeuten müssen, dass es keine derartigen Schwerpunkt-Grundschulen mehr geben dürfte. Im Übrigen fehlt eine nachvollziehbare Aussage der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, ob die Kriterien, die zu den einzelnen Förderschwerpunkten erarbeitet worden sind, zumindest in den Schwerpunktschulen bereits umgesetzt sind.
Seit Jahren senden verschiedene Gremien und Verbände der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie ihre Forderungen und Bitten um Veränderung. Das Berliner Bündnis für schulische Inklusion übergab zuletzt ihre Forderungen in Kooperation mit dem Berliner Behindertenparlament am Welttag der Menschen mit Behinderungen, dem 05.05.2021, an die Verantwortlichen, siehe hier: [Link BBP Forderungen].
Wir sehen dringenden Handlungsbedarf in dieser Sache. Wir fordern die Senatsverwaltung auf, ein Beteiligungsformat (z.B. eine Steuerungsgruppe) einzurichten, in das alle Betroffenen und Beteiligten partizipativ eingebunden sind, damit Inklusion in Berlin tatsächlich Fortschritte bei der Umsetzung macht. Es bedarf eines kurz-, mittel- und langfristigen Umsetzungskonzeptes, das Inklusion in Grund- und Oberschulen nachhaltig und verlässlich plant und dabei auch Klarheit über die notwendigen finanziellen Mittel schafft – und deren Bereitstellung sichert.
Gerne unterstützen wir die Organisation eines solchen Formates.
Unsere Unterlagen, Zahlen und Berichte, aus denen wir unsere oben getätigten Aussagen ableiten, stellen wir gerne zur Verfügung.
Unsere Forderungen können Sie hier nachlesen: Forderungen – Berliner Bündnis für schulische Inklusion (buendnis-inklusion.berlin)
Mit freundlichen Grüßen,
Anne Lautsch und Maike Dieckmann
für das Berliner Bündnis für schulische Inklusion
Hier können Sie den offenen Brief mit den Namen aller Unterzeichnenden herunterladen.