14.05.2024: Inklusion beginnt im Schulgesetz, Frau Senatorin!

Liebe Berliner Bildungssenatorin Frau Günther-Wünsch,

am 30. Mai 2024 wird im Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses über Ihr Vorhaben beraten, das Berliner Schulgesetz zu ändern. Sie bewerben es verheißungsvoll mit “Gleiche Chancen für alle Kinder!”.

Wir haben nur eine Frage: Sind Sie bereit, endlich den Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung, also die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an Bildung, im Berliner Schulgesetz zu verankern, sodass „Gleiche Chancen für alle!“ auch für Kinder mit Behinderungen gilt?

Wir sind schockiert und beunruhigt über Ihre Aussagen im Bezirkselternausschuss1 Treptow-Köpenick am 16. April 2024. Sie haben gesagt, der Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung stehe ja in der UN-Behindertenrechtskonvention und die Eltern könnten doch klagen. Zudem haben Sie gesagt, Sie fänden es unehrlich, diesen Rechtsanspruch im Berliner Schulgesetz zu verankern, da er nicht erfüllt werden könne.

Aus unserer Sicht stellt dies eine in Kauf genommene Entrechtung von Kindern mit Behinderung dar. Der rechtswidrige Zustand besteht so lange, bis Eltern mit genügend Zeit, Kraft und Geld sich durch alle Instanzen geklagt haben.

Wir hoffen doch, die Senatsverwaltung erkennt die dramatischen Auswirkungen für betroffene Kinder und ihre Eltern. In Berlin sind nach Schätzungen über 1000 Kinder mit Behinderungen unbeschult (geflüchtete Kinder mit Behinderungen noch nicht mitgerechnet), sehr viele kurzbeschult, und sehr viele verlassen trotz des Potenzials aufgrund mangelnder Förderung die Schule ohne Abschluss.

Der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung und Beschulung besteht als ein Menschenrecht der Kinder in der UN-Behindertenrechtskonvention schon lange und aus gutem Grund. Es handelt sich um ein Menschenrecht, das nicht in Abhängigkeit der Haushaltslage2 gelenkt oder entschieden werden darf. Es muss Priorität haben.

Unser Anliegen ist es, dass alle Kinder, unabhängig von Herkunft, Religion, Behinderungen oder anderen Merkmalen gemeinsam leben und lernen. Dazu gehört, dass jedes Kind wohnortnah eine Schule besuchen kann, in der es genau die Unterstützung und Förderung bekommt, die es jeweils benötigt, um seine Stärken zu entwickeln, sein Potenzial zu entfalten und sich als Teil der Gesellschaft zu begreifen.

Ihr neues Schulgesetz macht uns traurig, denn es offenbart, dass Sie sich nicht für alle Kinder einsetzen, sondern Kinder mit Behinderungen noch mehr ausschließen werden als bisher schon. Falls Ihre bisherigen Pläne so umgesetzt werden, bleiben noch mehr Kinder trotz Schulplatz an Regel- oder Förderschule aufgrund mangelnder individuell angemessener Vorkehrungen unbeschult, und der Trend zu noch mehr Trennung von Kindern mit und ohne Behinderung in separaten Schulen wird fortgesetzt. Es wäre schön, wenn wir uns irren und Sie uns mit der weiteren Überarbeitung des Schulgesetzes zeigen, dass Inklusion auch für Sie ein Menschenrecht bedeutet, einschließlich individuell angemessener Vorkehrungen in jedem Einzelfall.

Unsere Forderungen:

1. Angemessene Vorkehrungen
Der Rechtsanspruch auf angemessene Vorkehrungen (Artikel 24, UN-Behindertenrechtskonvention) muss ins Berliner Schulgesetz aufgenommen werden. Angemessene Vorkehrungen sind Maßnahmen, die im Einzelfall eines jeden Kindes oder Jugendlichen mit Behinderungen geeignet und erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass sie gleichberechtigt mit allen anderen ihre Rechte wahrnehmen und ausüben können. Das kann beim einen Kind der rollstuhlgerechte Zugang sein, beim nächsten Kind ein absolut ruhiger Raum zum Lernen, und beim dritten Kind eine Lehrkraft, die unterstützte Kommunikation beherrscht. Bei anderen Kindern kann das eine individuell bedarfsgerechte Schulassistenz im Sinne des Teilhaberechts sein oder ein Raum für Pflege. Die Liste der individuell notwendigen angemessenen Vorkehrungen ist so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet zum Schaffen von angemessenen Vorkehrungen und darf nicht aufgrund vermeintlich mangelnder Ressourcen und Mittel entfallen.

2. Schulplatzvergabe
Es gibt Schulen in Berlin, die sich sehr engagiert um Inklusion bemühen. Sie dürfen nicht ausgebremst werden. Darum muss das Berliner Schulgesetz für alle Schulen die Möglichkeit vorsehen, Kinder mit Behinderungen vorrangig bei der Schulplatzvergabe zu berücksichtigen.

3. Ganztag:
Berliner Kinder werden bis Klasse 6 in Regelschulen mit Hort-Angeboten beschult. Ab Klasse 7 sind die vorhandenen Ganztagsangebote für die Bedarfe von Kindern mit Behinderungen oft nicht mehr angemessen, weil sie sich nur auf Unterrichtszeiten beziehen. Gleichzeitig verfügen die Förderschulen über Angebote am frühen Morgen und bis in den späten Nachmittag. Daraus ergibt sich eine Ungleichbehandlung, die der UN-Behindertenrechtskonvention widerspricht. Für Eltern von Kindern mit Behinderungen bedeutet das, sie müssen ihre Berufstätigkeit aufgeben oder mindestens stark einschränken, wenn sie sich weiterhin für die Regelbeschulung ihres Kindes entscheiden. Bitte verankern Sie daher für Kinder mit allen Förderschwerpunkten den Rechtsanspruch auf Ganztag bis 18 Uhr im Berliner Schulgesetz auch ab Klasse 7 an Regelschulen, um diese Diskriminierung zu beenden, mindestens aber um ein echtes Wahlrecht zu schaffen.

4. Individuelle Bedarfe:
Die Errungenschaften des Bundesteilhabegesetzes müssen sich auch im Berliner Schulgesetz widerspiegeln, weil viele Kinder individuell angemessene Vorkehrungen benötigen. Kinder haben ein Recht auf ein Teilhabeplanverfahren nach dem Bundesteilhabegesetz. Das gilt natürlich auch für das Lebensumfeld Schule und muss deshalb auch im Schulgesetz stehen. In einem Teilhabeplanverfahren wird genau untersucht, was das konkrete Kind benötigt, um an Bildung teilhaben zu können. Selbstverständlich besteht dieses Recht auch vor der Einschulung, damit Teilhabe an Bildung von Anfang an möglich ist.

Es genügt nicht, wenn Rechtsansprüche in anderen Landes- und Bundesgesetzen oder der UN-Behindertenrechtskonvention enthalten sind, sondern sie müssen endlich ins Berliner Schulgesetz, um im Kontext Schule verankert zu werden.

Liebe Frau Senatorin Günther-Wünsch, passen Sie jetzt trotz der schwierigen Haushaltslage das Schulgesetz rechtskonform an und priorisieren Sie dies. Im Sinne einer inklusiven Gesellschaft und aller Kinder mit und ohne Behinderungen – und ihrer Familien.

Mit erwartungsvollen Grüßen,
Ihr Berliner Bündnis für schulische Inklusion

Rechtsgrundlagen/ rechtliche Hintergründe und Konkretisierungen:

zum Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung:
Der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung und Beschulung besteht als ein Menschenrecht der Kinder, in der UN-Behindertenrechtskonvention (Artikel 24). Die Verpflichtung zur Umsetzung ergibt sich aus Artikel 24 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 2 UN-BRK. („Völkerrechtliche Verträge werden über die spezielle Vorschrift des Art. 59 Abs. 2 GG in das deutsche Recht einbezogen.“ Quelle: Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Loseblattsammlung, 37. Ergänzungslieferung (Stand: August 2000), Art. 25 Rdnr. 20.)
Auch in der Schule müssen die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2, Grundgesetz) und ein selbstbestimmtes Leben verwirklicht werden. Eine Benachteiligung aufgrund der Behinderung ist nicht zulässig (Artikel 3, Grundgesetz).

zu Forderung 1:
Das Recht auf angemessene Vorkehrungen ist in Art. 24 Abs. 2c, d und e der UN-Behindertenrechtskonvention enthalten sowie im § 5 Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz: “(1) Angemessene Vorkehrungen sind Maßnahmen, die im Einzelfall geeignet und erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen ihre Rechte wahrnehmen und ausüben können und die die öffentliche Stelle nicht unverhältnismäßig oder unbillig belasten. (2) Die Versagung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen zur gleichberechtigten Wahrnehmung ihrer Rechte ist eine Diskriminierung im Sinne dieses Gesetzes.”
Um diesen Rechtsanspruch im Bereich Schule in Berlin zu verankern, muss er ins Schulgesetz aufgenommen werden.

zu Forderung 2:
Aktuell ist in § 37a Abs. 3 SchulG geregelt, dass Inklusive Schwerpunktschulen Kinder mit Förderschwerpunkt bei der Vergabe der Schulplätze bevorzugen dürfen und in § 10 Abs. 2 SopädVO steht, dass sie bis zu 3 (oder unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise 5) Kinder mit Förderschwerpunkt pro Klasse aufnehmen dürfen.

Für andere Regelschulen gilt das nicht und das hat schwerwiegende Folgen: Schulen, die von sich aus großes Engagement zeigen, inklusiv zu arbeiten, sich weiterbilden, geeignete Materialien erwerben etc, können aufgrund steigender Schüler*innen-Zahlen nur noch sehr schwer vermehrt behinderte Kinder aufnehmen, weil es nicht zulässig ist, den Förderschwerpunkt bei der Vergabe der Schulplätze besonders zu berücksichtigen.

Damit alle Regelschulen Kinder mit Behinderungen aufnehmen können und eine freie Schulwahl möglich ist, müsste dies in § 54 Abs. 2 SchulG in ähnlicher Weise für alle Schulen ergänzt werden, wie es im Moment nur für Inklusive Schwerpunktschulen festgelegt ist.

zu Forderung 3:
Aktuell sind Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Klassen 7 bis 10 vom Besuch einer allgemeinen Schule (Regelschule) ausgeschlossen, sofern sie Bedarf an ergänzender Betreuung bzw. Ergänzende Förderung und Betreuung
(eFöB) außerhalb der Unterrichtszeiten haben. Sie sind damit vom Recht auf inklusive Beschulung und dem entsprechenden schulgesetzlichen Anspruch, z.B. § 36 Abs. 2 S. 3 und Abs. 4 SchulG ausgeschlossen.
Im Schulgesetz selbst ist kein entsprechender Anspruch geregelt. Die Regelungen zum eFöB (§ 19 SchulG) sind an Regelschulen auf die Jahrgangsstufen 1 bis 6 beschränkt.
Für Kinder mit Bedarfen ab Klasse 7 besteht gem. § 19 Abs. 6 S. 2 SchulG ein entsprechender Anspruch nur beim Besuch von Förderschulen bzw. Auftragsschulen. Ein Anspruch auf eFöB ergibt sich für sie aus den Regelungen des § 28a SodPädVO bei Beschulung an einer Regelschule. Die Regelungen stehen dabei im Einzelfall zueinander im Widerspruch. Ebenfalls sind sie nur auf Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarfen in den Förderschwerpunkten „Geistige Entwicklung“ und „Autismus“ beschränkt.
Ein Ausschluss besteht daher unabhängig von der Schulform ab Klasse 7 bereits aus den landesgesetzlichen Regelungen für Kinder mit Bedarfen auf eFöB, die anderen sonderpädagogischen Förderbedarfen zugeordnet sind.
Für Kinder mit den festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarfen im Bereich „Geistige Entwicklung“ sowie „Autismus“ sind die Regelungen des SchulG und der SodPädVO zu harmonisieren. Um das Recht auf inklusive Beschulung für alle Kinder umzusetzen, ist eine Anpassung des § 19 SchulG unabhängig vom sonderpädagogischen Förderbedarf sowie des Ortes der Beschulung notwendig.

zu Forderung 4:
§ 5a “Zusammenarbeit Schule und Jugendamt” des Schulgesetzes muss um die Pflichten aus dem Teilhaberecht ergänzt werden, im Hinblick auf die Ermöglichung einer rechtskonformen Teilhabeplanung, u.a. Bewilligung individueller Schulassistenz oder auch bezogen auf die Schnittstellen mit anderen Rechtskreisen, sowie die Tatsache, dass bei Vorliegen von Behinderungen die Fallverantwortung sehr klar bereits gesetzlich geregelt ist. Der Teilhabefachdienst hat die Aufgabe, die individuell angemessenen Vorkehrungen im Rahmen einer gemeinsamen Teilhabeplanung zu ermitteln. Die Fallverantwortung und Aufgabe der Koordination liegt beim Teilhabefachdienst, beginnend bei der Bedarfsermittlung, individuell über die Lebensbereiche. Erst dann kommt die Abklärung, welche Stelle genau welche dieser Bedarfe ggf. vorrangig decken muss. Ein Anrecht auf die Durchführung des individuellen, ausschließlich personenzentrierten Teilhabeplanverfahrens im Hinblick auf die Einschulung bereits vor Schulplatzvergabe muss in § 5a SchulG verankert werden, damit ein adäquater Schulplatz vergeben werden kann, angemessene Vorkehrungen rechtzeitig geschaffen werden und Beschulung, Unterstützung, Hilfsmittel, Abbau von Barrieren in Vollzeit wie für alle anderen Kinder auch ab Einschulung gewährleistet ist. Rechtsgrundlage im Bundesteilhabegesetz: Die Ermittlung der individuell angemessenen Vorkehrungen muss im Rahmen einer gemeinsamen Teilhabeplanung erfolgen (Kap 2-4 Teil 1 SGB IX), da die Schule eine “andere öffentliche Stelle” gemäß § 22 SGB IX ist. Die Reihenfolge des Teilhabeplanverfahrens ist dabei zwingend zu beachten: Am Anfang steht die personenzentrierte Bedarfsermittlung über die Lebensbereiche, erst dann folgt das weitere vorgegebene Instrument der Teilhabekonferenz, und erst in der Teilhabekonferenz muss besprochen werden, wer mit etwaigen Beteiligten wann welche Schritte geht – nicht andersherum.

  1. Die Sitzungen der Bezirkselternausschüsse sind an sich nicht öffentlich, aber die BEA-Vertreter*innen der Schulen sind gehalten, andere Eltern über relevante Inhalte aus den Ausschüssen zu informieren. ↩︎
  2. Im Übrigen sind Förderschulplätze sehr teuer, denn der Assistenzbedarf eines Kindes sinkt nicht mit dem Verschieben an einen anderen Ort. Ebenso ist Nicht- und Kurzbeschulung teuer, da sie meistens die Arbeitslosigkeit von Elternteilen nach sich zieht, und zukünftig auch häufig die Arbeitslosigkeit des dann erwachsenen Kindes. ↩︎