26.03.2024: 15 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention, 15 Jahre Menschenrecht auf inklusive Bildung – Kein Grund zum Feiern in Berlin

Berlin zählt sich neben Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein zu den Bundesländern, die bisher am meisten getan haben, um Inklusion in der Schule umzusetzen. Leider ist das zu wenig, um die Ergebnisse zu feiern. Das Land Berlin verstößt auf vielen Ebenen gegen die UN-BRK, insbesondere gegen Artikel 24 (inklusive Bildung).

Sonderschulen werden ausgebaut
In Berlin gibt es noch immer 91 Sonderschulen. Weitere werden geplant, wieder geöffnet und sogar drei neue gebaut. Jüngst erstellte die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (SenBJF) eine neue Musterbauordnung für Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt “Geistige Entwicklung”.

-> Die UN-BRK fordert, dass Sondersysteme abgeschafft werden.

Kinder werden nicht oder verkürzt beschult
Immer mehr Familien wenden sich an Beratungsstellen, weil insbesondere Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum verkürzt oder gar nicht beschult werden. Allein im Berliner Bezirk Pankow betrifft das rund 50 Schüler*innen. Die SenBJF sieht sich außerstande, dieses Versagen des Schulsystems in den Schulen zu prüfen, obwohl seit Schuljahresbeginn 2022/2023 eine Meldepflicht der Schulen an die Schulaufsichten besteht. Stattdessen spricht sie von Einzelfällen, während die Beratungsstellen von rund 1000 Fällen in der Stadt ausgehen.

-> Die UN-BRK fordert, dass Daten erfasst werden, die die Qualität der Inklusion messen.

Geflüchteter Kinder mit Behinderungen werden diskriminiert
Das Land Berlin weiß nicht einmal, wie viele geflüchtete Kinder mit Behinderungen in Berlin aktuell leben, hält aber auch für diese Kinder an der separierenden Praxis fest. Für diese Kinder gibt es in der Regel weder in den Willkommensklassen noch in den Sonderschulen Plätze, sodass ein Großteil der geflüchteten Kinder mit Behinderungen nicht beschult wird und von intersektionaler Diskriminierung betroffen ist.

-> Die UN-BRK fordert. dass diese Zahl erfasst wird und die Kinder angemessen beschult werden.

Sparmaßnahmen und Personalmangel werden mit unqualifiziertem Personal beantwortet
Die SenBJF muss 330 Mio. Euro aus dem Haushalt streichen. Das tut sie auf Kosten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, die schon heute oftmals ohne die angemessenen Vorkehrungen die Schulen besuchen. Weiterhin besteht ein eklatanter Mangel an Sonderpädagog*innen – diese werden noch immer nicht in ausreichender Zahl ausgebildet. Diesen chronischen Personalmangel sollen nun u.a. Pädagogische Assistent*innen mit unzureichender Ausbildung und unausgebildete Schulhelfer*innen beheben. Der Sparzwang betrifft auch Kinder mit hohen Unterstützungsbedarfen, da die SenBJF die SIBUZe dazu anhält, die Förderquote für Kinder mit erheblichen körperlichen Behinderungen und Erkrankungen (Förderschwerpunkt ‘Körperlich-motorische Entwicklung’) zu reduzieren.

-> Die UN-BRK verlangt eine qualitativ hochwertige Bildung für alle Kinder und die Sicherstellung der dafür nötigen individuell angemessenen Vorkehrungen.

Das alles und noch viel mehr widerspricht der UN-BRK, die die Bundesrepublik vor 15 Jahren ratifiziert hat.

Im vergangenen Sommer wurde Deutschland zum zweiten Mal in der Staatenprüfung der UNO heftig kritisiert und wiederholt aufgefordert, Sonderschulen abzubauen und die inklusive Entwicklung des Schulsystems zu beschleunigen. Der UN-Fachausschuss forderte Deutschland dazu auf, sicherzustellen, dass die Bundesländer wirksame Aktionspläne erstellen, die den Vorgaben der UN-BRK entsprechen. Dies stellt eine beispiellose Bloßstellung der Länder dar, die der UN-BRK zwar am 19. Dezember 2008 einstimmig zugestimmt haben, jedoch seitdem die notwendige inklusive Schulreform in der Schulpolitik, für die sie selbst zuständig sind, verzögern und verschleppen. In einem Offenen Brief, unterstützt von mehr als 140 Organisationen, haben Eltern behinderter Kinder aus verschiedenen Bundesländern kürzlich die Bundesregierung aufgefordert, Druck auf die säumigen Landesregierungen auszuüben.

Erst vor wenigen Tagen hat der Europarat seinen Staatenbericht zur Menschenrechtslage in Deutschland veröffentlicht. Darin kritisiert er, dass ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen und die Inklusion in Deutschland nach wie vor durch ausgrenzende Strukturen wie Sonderschulen und Werkstätten für behinderte Menschen äußerst erschwert werden.

Die Bundesregierung muss dringend handeln, um die Vorgaben der UN-BRK endlich zu erfüllen und sicherzustellen, dass alle Kinder, einschließlich Kindern mit Behinderungen, hochwertige und diskriminierungsfreie Bildung erhalten.

Wir fordern von der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie,

  1. einen Zeitplan festzulegen, um Kinder mit Behinderungen bis spätestens 2030 in inklusiven Schulen zu beschulen – mit konkreten personellen, technischen und finanziellen Ressourcenzuweisungen und klaren Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überwachung u.a. durch die Zivilgesellschaft, sodass sichergestellt wird, dass alle Schulen der Stadt spätestens ab 2031 für alle Kinder zugänglich und Sonderschulen zu inklusiven Schulen mit kleinen Klassen umgebaut sind.
  2. die intersektionalen Diskriminierung von geflüchteten Kindern mit Behinderungen zu beenden und ihr Menschenrecht auf Bildung sicherzustellen.
  3. Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen, um allen Kindern einen regulären Schulabschluss zu ermöglichen, insbesondere auch Kindern mit den Förderschwerpunkten “Lernen” und “Geistige Entwicklung”.
  4. alle Pädagog*innen, Erzieher*innen und Mitarbeitenden für inklusiven, barrierefreien Unterricht in multiprofessionellen Teams verpflichtend weiterzubilden und kontinuierlich behinderungsspezifische Fortbildungen durchzuführen, die jährlich rechtzeitig bis zu den Herbstferien stattfinden und externe Expert*innen sowie Vertreter*innen der Selbsthilfe einbeziehen, um die Inhalte den individuellen Bedarfen und Begabungen der Kinder anzupassen.
  5. Sensibilisierungs- und Bildungskampagnen für inklusive Bildung auf allen Ebenen durchzuführen und einen Konsens zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Institutionen zum einheitlichen Verständnis des Inklusionsbegriffs entsprechend der UN-BRK zu schaffen.

    #InklusiveBildungJetzt!

Quellen:

Artikel 24 UN-BRK:
https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsschutz/datenbanken/datenbank-fuer-menschenrechte-und-behinderung/detail/artikel-24-un-brk

Abschließende Bemerkungen des UN-Fachausschusses 2023 (in englischer Sprache)
https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/treatybodyexternal/Download.aspx?symbolno=CRPD%2FC%2F DEU%2FCO%2F2-3&Lang=en

Verstößebericht 2021/2022 der Berliner Landesbeauftragten (PDF Download)
https://www.berlin.de/lb/behi/_assets/themen/14-verstoessebericht-der-lfb.pdf?ts=1705017642